Daniel Spoerri: “Wir waren kleine Gauner”

Heute, am 27. März 2015, feiert Daniel Spoerri seinen 85. Geburtstag. Aus diesem Anlass ein Interview, das ich mit dem Künstler über seine Kindheit in Rumänien, die Liebe zum Tanz, die Fallenbilder als Antithese zur Kinetischen Kunst und das Museum in Hadersdorf geführt habe. Eine gekürzte Fassung erschien in Heft 4/09 der Kulturzeitschrift “morgen”. –

Sie wurden 1930 in Rumänien geboren, haben in der Schweiz, in Paris, in New York gelebt…

Und 13 Monate auf einer griechischen Insel. Ich habe in San Francisco, in Hamburg, Darmstadt, Köln, Düsseldorf, München und Berlin gelebt. Dann 20 Jahre in der Toskana und dann im Tessin. Und seit zwei Jahren (also seit 2007, Anm.) lebe in Wien.

Als was fühlen Sie sich? Als Rumäne, Jude, Schweizer, Europäer, Kosmopolit?

Als ich in New York wohnte, sagte ich: „Ich bin ein New Yorker.“ Weil es keine New Yorker gibt. Alle sind von irgendwo her, alle sind Juden oder Schwarze. Es ist ein Mischmasch. Aber ich möchte nicht in New York wohnen. Ich würde mich als Mitteleuropäer bezeichnen. Diese Region hier: die passt mir schon.

Warum wollten Sie gerade in Wien leben?

Sie tun so, als wäre Wien ein Vorstädtchen! Wien ist eine uralte Kulturstadt. Aus der Sicht von Galati – das ist der Ort, wo ich geboren bin – ist Wien bestimmt das Paris von Mitteleuropa. Ich habe lange Zeit gedacht, in Triest leben zu wollen. Aber ich musste feststellen, dass es das Triest, das ich in meinem Kopf hatte, nicht mehr gibt. Nämlich das Triest des Claudio Magris, das Triest des späten 19. Jahrhunderts. Ich wäre, wie in der Toskana, wieder nur im Italienischen gewesen – und oben im Karst sind die Slowenen. Das war mir sprachlich zu kompliziert. Hinzu kommt, dass ich in Wien sehr viele Leute kenne oder sie sehr schnell kennenlerne.

Mitte Juni 2009 haben Sie in der Nähe von Krems ein Ausstellungshaus und ein Esslokal eröffnet. Hadersdorf ist bisher nicht unbedingt als Kulturmetropole in Erscheinung getreten. Wie kamen Sie denn auf Hadersdorf?

Meine Assistentin Gabriele Feil kam auf Hadersdorf. Sie ist eigentlich Architektin. Sie sagte mir einmal, ich sollte alle meine Werke, die unter anderem bei meinem Gießer untergebracht waren, zusammenkriegen. Ich sagte zu ihr: „Du weißt aber nicht, wovon Du sprichst! Ich hab sehr viel, ich hab in der Schweiz immer noch ein ganzes Lager voll.“ Und dann hat sie dieses ehemalige Klostergebäude in Hadersdorf entdeckt, weil sie eigentlich für sich selbst etwas suchte. Sie sagte: „Für uns ist das zu groß, aber für Dich ist das fantastisch.“ So kam das Ganze ins Rollen.

Und dann haben Sie auch noch die ehemalige Poststation gekauft…

Das war meine Spinnerei. Die Poststation war eben auch zu haben. In der Toskana gibt es ja meinen Skulpturenpark, den „Giardino“. Und weil es dort ein kleines Restaurant gibt, hab ich mich eben dazu entschlossen.

Sie hatten ja schon in den späten 1960er-Jahren ein Restaurant.

Ja, das „Restaurant Spoerri“ in Düsseldorf. Aber ich war nur zwei Jahre dabei. Dann ging ich wieder nach Frankreich zurück. Ich hielt es in dem Restaurant nicht mehr aus. Da war ich nur mehr der „Maitre de Plaisir“.

Hadersdorf ist ein wirklich idyllischer Ort…

Ja, dieser wunderschöne Platz mit den alten Häusern drum herum. Wunderbar! Und genau dort zeige ich meine aggressiven Fallenbilder und Assemblagen! Das finde ich wirklich toll: Dass es dort im Klostergebäude so richtig donnert.

In Hadersdorf dürfte Ihr Werk nicht bekannt gewesen sein. Wie verhält man sich Ihnen gegenüber?

Die denken wahrscheinlich: „Der ist ein Spinner. Mal schauen, vielleicht ist es ja gut für uns, wenn es das Ausstellungshaus gibt.“ Einer hat mir ins Gesicht gesagt: „Wissen Sie, ich hab schon viele Leute kommen und gehen gesehen.“ Und ein anderer fragte mich: „Warum wohnen Sie nicht da drin? Das ist doch schade: So ein schönes Haus – und jetzt steht es leer.“ Für ihn ist das Museum leer. Diese Menschen dort schauen nicht auf die Wände!

Und jetzt sind Sie noch dazu in eine politische Kontroverse verwickelt.

Sie kennen die Geschichte? Im April 1945, als die Russen schon vor Wien waren, sagte sich der Gefängnisdirektor von Stein, dass er die Gefangenen doch nicht in der Zelle verhungern lassen könne. Er sperrte alles auf. Und die Häftlinge machten sich auf den Weg nach Wien. In Hadersdorf haben sie nach dem Weg gefragt. Und da hat jemand sie denunziert: Sie wurden eingefangen, mussten sich ihr eigenes Grab schaufeln und wurden dann erschossen. Aber zuerst mussten sie die Schuhe ausziehen. Wohl deshalb, weil es im Gefängnis eine Schuhmacherei gab – und die Gefangenen sich noch schnell neue Schuhe genommen haben, um nach Wien laufen zu können. Das ist eine Spekulation von mir. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass die guten Schuhe den Ausschlag gaben, diese Leute zu erschießen. Und die Söhne der Söhne machen jetzt einen großen Rabatz und verlangen ein Denkmal. Aber ich habe mit dieser Geschichte nichts zu tun. Und ich weigere mich, da hineingezogen zu werden. So schrecklich das ist, was damals passiert ist. Aber es gab und gibt überall so viele schreckliche Geschichten. Wenn das soziale Gefüge durcheinander gerät, werden die Menschen leider zu Bestien. Man müsste sich andauernd irgendwo einmischen. Das kann ich nicht: Mich solidarisieren, nur weil auch mein Vater getötet wurde – von rumänischen Faschisten.

Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater?

Ich hatte Angst vor ihm. Er war furchtbar streng, er hat mir Ohrfeigen gegeben – aber nicht aus Sadismus. Es war eine alttestamentarische Strenge. Er sagte sich: „Damit aus ihm etwas wird, muss ich ihn prügeln.“

Haben Sie noch viele Erinnerungen an Rumänien?

Ich hab viel verdrängt, zum Beispiel die Sprache. In Galati war ich zuerst in einer deutschen Schule. Da war ich sehr gut. Denn ich hatte ein deutschsprachiges Kindermädchen aus Siebenbürgen. Ich muss da ein bisschen ausholen: Der Vater meiner Mutter war der Leiter der Diakonissen-Kongregation in der Schweiz. Meine Mutter ging nach London, später wurde sie als Englischlehrerin an eine anglikanische Schule nach Bukarest entsandt. Und dort lernte sie meinen Vater kennen: ein sehr schöner Mann mit einem Schnauzer. Er hieß Feinstein, war vom jüdischen zum evangelischen Glauben konvertiert. Warum? Wahrscheinlich, weil er etwas gegen seinen eigenen Vater, einen Synagogensänger, hatte. Mein Vater arbeitete dann als Missionar für die norwegisch-lutheranische Kirche in Galati. Er hielt Lichtbildervorträge über das Neue Testament und erstellte eine rumänische Konkordanz. Er wollte, dass ich sein Nachfolger werde, aber erstaunlicherweise ist dann mein Bruder in diese Rolle gedrängt worden – von der Mama. Meine Mutter hatte sieben Geburten in zehn Jahren. Dann, 1941, ist mein Vater gestorben.

Wie war die NS-Zeit für Sie?

Irgendwann hieß es: „Juden raus!“ Und so musste ich die deutsche Schule verlassen. Ich hab damals nicht begriffen, warum. Um diese Zeit kam ein norwegischer Pastor nach Galati, und in Iasi wurde eine neue Missionsstation eröffnet. Dort sind wir dann hin. Wir wohnten über dem Predigtsaal. Ich kam in eine rumänische Schule, wurde aber bald rausgeschmissen. Und dann wurde ich in eine jüdische Schule eingeschrieben, ich ging aber nicht hin. Es war Krieg, ich verwilderte in einer Straßenbande. Das war schön, das hat mir gut gefallen. Es kamen kleine Propellerflugzeuge angeflogen, die man schon von weitem hörte, und es flogen Bömbchen. Wir waren kleine Gauner und schlau, wir sammelten all die Dinge auf, die da herumspritzten, verkauften sie und konnten mit dem Geld ins Kino gehen.

Da entschloss sich Ihre Mutter zur Flucht in die Schweiz?

Wir waren nicht wirklich auf der Flucht. Meine Mutter, eben eine geborene Spoerri, war durch Heirat Rumänin. Sie musste das rückgängig machen – und sich von der Schweiz wieder akzeptieren lassen. Es brauchte fast ein Jahr, bis sie einen Schweizer Pass und all diese Visen bekam. Wir durften natürlich nicht durch Österreich und Deutschland: Wir mussten über Belgrad, Triest und Mailand reisen. 1942, während der Invasion der Deutschen in Jugoslawien, war diese Frau mit sechs Kindern unterwegs. Einer davon war Epileptiker, eine hatte das Down-Syndrom. Das war schon eine Anstrengung!

Hatten Sie Angst?

Ich war zu klein, um zu kapieren, was vor sich ging. Nein, Angst hatte ich keine. Ich habe auch heute keine Angst, in eine neue Stadt zu übersiedeln.

In Zürich wurden Sie von Ihrem Onkel Theophil Spoerri adoptiert.

Ich wohnte bei ihm, aber ich wurde nicht offiziell adoptiert. Er war Rektor der Universität, Romanist. Ich verehrte ihn. Er war zwar lieb, aber er hat sich nie wirklich um mich gekümmert. Und die Tante war so streng, dass ich sie hasste. Ich musste wieder in die Schule.

Und Sie wurden Tänzer.

Ich war ein schlechter Schüler, ich kam nicht weiter. Aber was ich wirklich gut konnte, war das Tanzen. Es gab diese sogenannten Existentialistenkeller. Ein Freund von mir spielte wunderbar die Trombone in einer Jazzband. Und ich tanzte dazu – wie verrückt. Wenn ich begann, hörten die anderen zu tanzen auf und schauten mir zu. Irgendwann einmal wurde ich in der Nach schlafend – und wahrscheinlich betrunken – von einem alten Schweizer aufgelesen. Max Pfister, der sich Terpis nannte. Ein ehemaliger Tänzer. Er wurde mein zweiter Vater. Wir waren nie ein Paar, aber es war ein Wunsch von ihm. Ich war ja sein Findling. Er brachte mich in die Theatertanzschule. Irgendwann sagte er: „Jetzt müsstest Du eigentlich nach Paris gehen, denn hier versauerst du.“ Und so ging ich nach Paris und dort in die Ballettschule. Ich musste Geld verdienen, arbeitete als Modell und so kam ich langsam in das Künstlermilieu. Ich lernte Eva Aeppli und Jean Tinguely kennen. Tinguely erfand dieses Maschinentheater „Méta-matic“, die Motoren dafür kaufte er mit meinem Geld. Ich verliebte mich in Eva Aeppli, wir waren eine zeitlang ein Dreieckspaar. Es war eine komplizierte Geschichte. Damals gingen viele nach New York. Dort waren John Cage und Merce Cunningham, dort hatte der Tanz ganz neue Wege bestritten, weil ja auch der deutsche Ausdruckstanz nach New York emigriert war. Aber diesen Absprung verpasste ich. In Paris dominierte noch die klassische russische Ballettschule. Ich ging sehr oft ins Theater, sah die Stücke von Eugen Ionesco und Arthur Adamov, wollte etwas mit Pantomime entwickeln. Ich wollte Farben in Bewegung umsetzen: Wie bewegt man sich rot, gelb, blau? Kreiselnd, spitzig, linear. Und Tinguely wollte zu meinem Farbballett ein Bühnenbild machen. Die Konstruktion krachte bei der Generalprobe kläglich zusammen. Aber ich erzähle jetzt nur diese alten Geschichten. Interessant wird es doch erst, als ich das anfing, was ich heute noch mache.

Ja, bitte gerne!

1954 ging ich zurück nach Bern, war Tänzer am Stadttheater. Aber mit den Theaterleuten hatte ich nichts zu tun: Meine Freunde waren Dieter Roth, Bernhard Luginbühl, Claus Bremer und André Thomkins. Wir führten „Die Kahle Sängerin“ auf und „Die Unterrichtsstunde“, ich ging für einige Zeit nach Darmstadt, wir gaben eine Zeitschrift für konkrete Dichtung heraus. Irgendwann, so um 1960, lernte ich in Zürich den Direktor des Stedelijk Museums kennen. Ich sagte zu ihm: „Sie haben so ein tolles Museum, aber eines haben Sie noch überhaupt nicht kapiert: Dass es diese neue Kinetische Kunst gibt.“ Und er sagte: „Dann machen Sie eine Ausstellung!“ – „Ich? Ich habe noch nie eine Ausstellung gemacht.“ – „Aber Sie scheinen zu wissen, worum es geht! Wir werden Ihnen schon helfen.“ So kam es zur Ausstellung „Bewogen Beweging“ in Amsterdam. Tinguely durfte machen, was er wollte, er war damals schon mit Niki de Saint Phalle zusammen. Es war eine riesige Ausstellung! Sie wurde danach auch in Stockholm gezeigt. Und in dieser Suppe mit der Kinetischen Kunst gab es für mich die Erleuchtung: Die Antithese zur Bewegung ist eine fixierte Situation, der Stillstand. So begann es.

Gleich mit fixierten Tischen?

Ja. Der Tisch war für mich wie ein Bild von Malewitsch: Ein Quadrat mit Kreisen und Balken darauf. Und diese fixierten Tische hängte ich an die Wand. Fast wäre ich in eine Falle geraten. Denn Yves Klein schlug mir vor, meine Tische blau zu sprayen. Aber ich lehnte das zum Glück ab. Er war damals schon ein Skandalkünstler: Es gab unglaubliche Diskussionen, ob sein Blau ohne etwas anderes Kunst sein kann.

Aber auch Sie dürften auf Unverständnis gestoßen sein.

Natürlich. Ich machte Fotos von meinen fixierten Tischen und zeigte sie. Man sagte: „Ja, das ist ein Foto von einem Tisch.“ Und ich sagte: „Nein, das ist ein Foto von meiner Kunst an der Wand!“ Das konnte man sich damals gar nicht vorstellen. Ich brauchte daher immer jemanden am Foto, der zur Wand hinschaut. Jedenfalls, so fing es an mit den Fallenbildern.

Sie sollten eigentlich auch Ihren Schreibtisch fixieren: Das ist ja ein wunderbares Kunterbunt aus Objekten, Antiquitäten, Arbeitsmaterialien und Werkzeugen.

Und Sie haben bereits das Ihre dazu beigetragen: Auf dem Schreibtisch steht Ihr Aufnahmegerät und Sie haben den Koprolithen verrückt. Wissen Sie, was das ist? Versteinerte Scheiße von irgendwelchen Echsen. Was ich natürlich toll finde. Leben, Tod und Essen: Das interessiert mich. Das ist eigentlich mein Thema.

In Ihren Assemblagen verwenden Sie die unterschiedlichten Dinge: Alltagsgegenstände, bizarre Objekte, Artefakte, Metallteile und so weiter. Finden Sie all diese Sachen selbst? Oder haben Sie Leute, die für Sie auf der Suche sind?

Nein, diese Gegenstände sehen die anderen nicht. Ich muss sie selber finden. Ich war jetzt gerade zwei Tage in Krems unterwegs. Denn… Aber da muss ich jetzt die Vorgeschichte erzählen. 1962 erschien mein Buch „Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls“. Darin beschrieb ich 80 Objekte auf einem Tisch. Und daraus entstand dann später das „Musée sentimental“: Ich erweiterte das Territorium auf eine ganze Stadt. Von 1977 an war ich an der Kunsthochschule in Köln. Ich war nie zuvor dort gewesen und so sagte ich zu den Studenten: „Kommt, wir erforschen einmal das Territorium.!“ Zuerst erstellten wir einen Stichwortkatalog: der Dom, der Rhein, der Karneval, Heinrich Böll, Eau de Cologne und so weiter. Und zu jedem Stichwort suchten wir uns dann ein anekdotisches Objekt. Anhand dieser Objekte – da waren sehr lustige darunter – erzählten wir die Geschichte der Stadt. Die Ausstellung hieß „Le Musée sentimental de Cologne“. Sie wurde von Tausenden besucht. Nam June Paik sagte zu mir: „Wonderful exhibition! Never saw so many old women laughing.“

Copyright: Thomas Trenkler 2009/2015

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